Aus „Dao De Jing“ von Lao Zi  Kapitel 1




Inhaltliche Übersetzung:

Dem Dao kann man sich nähern, man kann es kennen lernen und wie auf einem Weg weiter gehen. Doch man kann es nicht in seiner Gesamtheit erfassen, sonst wäre es nicht mehr das Dao.

Denn das Dao entwickelt sich immer weiter, es lebt und verändert sich. Das Dao umfasst alles und auch nichts, sein und nicht sein.

Man kann etwas benennen, aber das bedeutet nicht, dass diese Benennung für immer gültig ist.

Vor Beginn der Zeit gab es nichts, also das Nichtsein und auch keine Benennungen. Nach Beginn der Zeit existierte alles, von da an bekam alles einen Namen.

Deshalb kann der Wunschlose mit „nichts“ die Welt in ihrer Tiefe erfassen und den Urgrund finden. Aber jemand, der Wünsche hat, kann mit diesem „alles“ die Welt nur von außen erfassen.

Alles“ und „nichts“, „sein“ und „nichtsein“ kommen aus der gleichen Quelle, sie haben nur andere Benennungen. Hier zeigen sich die tiefsten Geheimnisse,

und hinter den Geheimnissen gibt es noch weitere Geheimnisse. Es ist wie ein Tor , mit dem man alles im Universum erklären kann wenn man es öffnet.



Kommentar:

In diesem Kapitel sagt Lao Zi, dass alles in unserer Welt aus dem Nichts entstanden ist, also: das Sein kommt aus dem Nichtsein; und alles kehrt auch wieder in das Nichts zurück, also:

das Nichtsein kommt aus dem Sein. So entsteht ein immerwährender Kreislauf. Auch beim menschlichen Denken spielt das Prinzip von Alles und Nichts eine Rolle.

Ein Mensch kann bei der gleichen Sache zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen: wenn er sie mit Wünschen betrachtet, wird er sie nur von außen sehen; macht er seinen Kopf frei,

dann sieht er in die Tiefe. Ein Beispiel: in vielen Liebesbeziehungen treten nach einiger Zeit dadurch Probleme auf, dass die Liebenden einander nicht mehr so attraktiv finden wie am Anfang .

Das anfängliche Begehren bedeckt zunächst Unzulänglichkeiten und Fehler des Partners und läßt ihn in einem besseren Licht erscheinen.

Das heißt, am Anfang hat man einen Wunsch im Kopf, zum Beispiel den Wunsch nach Sex. Im Lauf der Zeit läßt dieser Wunsch nach und der Kopf wird wieder freier.

Dann schaut man sich mit anderen Augen an und entdeckt die tieferen Schichten des Anderen. In Wirklichkeit hat der Partner sich vielleicht gar nicht verändert,

doch sieht man jetzt verstärkt auch die negativ empfundenen Seiten.

In China gab es in der Qing-Dynastie eine Kaiserin mit Namen Ts`u-Hsi. Sie musste wegen des Angriffs von ausländischen Armeen fliehen und war mittellos. Einige Tage lang litt sie Hunger,

bis ihr eine Bäuerin ein Maisbrot gab. Der Kaiserin schien es, als hätte sie nie etwas besseres gegessen. Nachdem die Krise beendet war,

konnte sie wieder in ihren Palast und zum gewohnten Leben zurückkehren. Dazu gehörte auch ein tägliches Festmahl mit ungefähr hundert verschiedenen Gängen.

Das Maisbrot konnte sie jedoch nie vergessen und befahl ihrem Koch, solch ein Brot zu servieren.

Als sie es probierte, erschien es ihr allerdings nicht im geringsten so schmackhaft wie damals, als sie hungrig gewesen war. Der Koch wurde schwer bestraft, weil er nicht in der Lage war,

der Kaiserin den erhofften Genuss wieder zu beschaffen.

In Wirklichkeit hatte der Koch das Brot auf die gleiche Weise zubereitet wie die Bäuerin; doch die Kaiserin hatte jetzt einen Wunsch/eine Vorstellung im Kopf,

wie das Brot schmecken sollte und konnte es nicht mehr so genießen wie beim ersten Mal, als sie hungrig war und aß, ohne etwas bestimmtes zu erwarten.

Außen und Innen entsprechen der Yin/Yang-Theorie. Sie beeinflussen sich gegenseitig und sind zwei Seiten der gleichen Sache. Auch können sie sich verändern.

Will sich das Liebespaar wieder füreinander attraktiv machen, so könnte es eine Lösung sein, wenn sie sich für kurze Zeit voneinander trennen. Dann tritt wieder der anfängliche Wunsch in den Vordergrund,

und sie betrachten sich mehr von außen. Die Lebenkunst besteht darin, den Blick auf den anderen nicht zu sehr in die Tiefe gehen zu lassen. Will man wieder Appetit auf einfaches Essen haben,

so ist das nicht schwer: man muss nur eine Weile hungrig bleiben, und das Essen wird köstlich schmecken, egal wie einfach es auch ist.



Yuan, Hong Li









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