Woran Stuttgarter glauben (15): Taoismus
Hong Li Yuan hebt die Stimme:
"Versuchen Sie jetzt, mich wegzuschieben!", sagt er in
seiner Tai-Chi- und Qigong-Schule am Rotebühlplatz 11. Während
mein Kollege Leif und ich uns gegen den Chinesen stemmen, steht der
Meister aus Schanghai fest verwurzelt wie ein Baum. Seine Füße
bewegen sich keinen Millimeter, er wirkt entspannt, behält das
äußere und innere Gleichgewicht. "Wenn ich Kraft
anwenden würde, könnten Sie mich mühelos besiegen. Wei
wu wei oder Nicht-Handeln, heißt aber mein Prinzip."
Die
altchinesische Naturphilosophie des Taoismus bietet Übungen des
Tai-Chi-Chuan und des Qigong als Kampf gegen negative Energien. Dies
bedeute aber nicht, dass gar nicht gehandelt werden müsse,
sondern dass nicht gegen das "Dao, das Weltprinzip"
gehandelt werden soll. Die spezielle Energie, mit der der 51-jährige
negativen Kräften trotzt, gewinnt er durch das hier als
Schattenboxen bekannte, jahrhundertealte Tai-Chi-Chuan und die
Jahrtausende alten Übungen des Qigong.
"Die Wurzeln von alldem liegen im
Taoismus", sagt er. Auch vielen Europäern sei Laotse, der
bedeutendste Gelehrte dieser chinesischen Naturphilosophie und
Gesundheitslehre, ein Begriff. "Lao-tse hat für die
intelligente Oberschicht geschrieben, für einfache Menschen
waren seine Lehren und Strategien zu hoch", sagt der Meister.
Der Weg zum Tao führe für die meisten Menschen deshalb über
die Erfahrung, das Mitmachen und beständige Üben der
altüberlieferten Formen des Tai-Chi-Chuan und des
Qigong.
Gläubige Christen und Muslime bemühten sich,
durch eine gottgefällige Lebensführung ins Paradies zu
gelangen. "Im Taoismus kann man aber schon im Diesseits eine Art
von Seligkeit erreichen", versichert Hong Li Yuan und ergänzt
verschmitzt: "Allerdings haben auch wir Chinesen das ewige Leben
nicht erfunden." Der Taoismus habe jedoch den Weg, gesund alt zu
werden, ins Zentrum seiner Lehre gerückt: "In Europa sagen
Menschen, die gesund sind, sie hätten einen guten Arzt. Wenn sie
krank sind, klagen sie, ihr Arzt sei schlecht. Diese Menschen machen
das System für ihre Gesundheit verantwortlich", sagt Hong
Li Yuan. In der klassischen taoistisch-chinesischen Sicht der Dinge
sei dagegen das Individium selbst für seine Gesundheit
verantwortlich. Mit dem "äußeren Weg"
unterstütze die taoistische Medizin mit Kräutern und
anderen Heilmitteln den Menschen, der "innere Weg" sei
jedoch das wesentliche Element. "Ich unterrichte den
ursprünglichen Stil des Tai-Chi, der Elemente aus Kampfkunst,
Energiearbeit und chinesischer Philosophie vereint. Eine
philosophische Kampfkunst, die man nur durch langes Üben lernen
kann", sagt der Meister. Im Zentrum des Bemühens stehe die
Aufnahme positiver Energie und der Ausgleich von Yin und Yang, dem
männlichen und weiblichen Prinzip.
"Was man dabei
erreicht hat, bleibt, das kann auch das Altern nicht nehmen."
Schon als Zehnjähriger hat Hong Li, Sohn eines Offiziers und der
Chefin einer Firma in Shanhai angefangen, sich mit Qigong und Tai-Chi
zu beschäftigen.
Seit 1992 lebt Hong Li Yuan in
Stuttgart. Mit Deutschland ist er seit Kindesbeinen vertraut: "Es
gibt keinen Chinesen, der Deutschland nicht kennt, da jeder Chinese
ja Karl Marx kennen muss", erklärt er. Die sozialistische
Lehre war es jedoch nicht, die Hong Li Yuan an Deutschland
interessierte. "Ich habe schon in China angefangen, europäische
Literatur zu studieren, und ein wenig Deutsch gelernt. In Stuttgart
habe ich schließlich einen Studienplatz für Germanistik
bekommen und dies als Start für eine neue Existenz
gesehen."
Ein Sprung ins kalte Wasser. Sein Leben bestand
fortan aus Studieren und Unterrichten von Tai-Chi und Qigong, Monate
lang hatte er nur eine Schülerin. "Man braucht Mut und
Ausdauer für einen solchen Schritte. Das Tao hat mir dabei
geholfen." Geholfen haben ihm aber auch sein Fleiß und
seine Begabung, die Welt des Taoismus literarisch für Europäer
erlebbar werden zu lassen. So ist Hong Li Yuan mittlerweile der Autor
von vier Büchern, darunter die Sachbücher Qigong und
Tai-Chi-Chuan.
Dass das Tao auch Europäern viel zu geben
hat, davon ist Hong Li Yuan überzeugt. "Es ist egal, wann
Sie mit Qigong und Tai-Chi beginnen, Sie können 80 Jahre alt
sein, allerdings sollten Sie noch stehen können" sagt er.
Er sei mehrmals in Stuttgarter Altersheimen gewesen. "Die
Menschen machen dort schon ab und zu etwas gemeinsam, manchmal singen
sie zusammen. Aber ihre chinesischen Altersgenossen sind gesünder.
Hier könnten die Europäer durchaus etwas von den Chinesen
lernen und durch eigenes Üben Energie tanken."
Jedes
Jahr fährt Hong Li Yuan in seine Heimat zu taoistischen
Heiligtümern. "Was den Buddhisten das Shaolin-Kloster, sind
den Taoisten die Tempel in den Wu-Dang-Bergen." Dort tauscht er
Erfahrungen mit den taoistischen Meistern aus: "Ich habe stets
deutsche Schüler dabei, sie können sich dort mit
chinesischen Schülern messen." Und stolz ergänzt er:
"Oft haben meine Schüler dabei gewonnen." Ungefährlich
sind solche Kämpfe trotz aller Gesunheitsgrundsätze nicht.
Tai-Chi-Chuan ist schließlich auch eine Kampfkunst. Yuan: "Man
kann sich verletzen, dies geschieht aber unabsichtlich. Wer ein
gewisses Niveau erreicht hat, will niemanden verletzten oder gar
töten - obwohl er es könnte."
Der
Taoismus ist eine uralte chinesische Religion,
die aus dem Schamanismus, also der Vermittlung zwischen Menschenwelt
und Geisterwelt durch Schamanen, entstanden sein soll. Durch die
Lehren des Naturphilosophen Laotse, der im vierten oder dritten
vorchristlichen Jahrhundert gelebt haben soll, wurde der Taoismus
weit verbreitet. Schließlich wurde Laotse, der gemäß
dem Glauben seiner Anhänger mehrmals auf die Erde zurückgekommen
sein soll, seit dem Jahre 200 nach Christus als Gott verehrt. Heute
soll der Taoismus rund 400 Millionen Anhänger haben.
Dao
heißt das zentrale Element des Taoismus. Es wird als "Weg"
oder "Straße" übersetzt. Dao sei, so die
Taoisten, als umfassendes Weltprizip zu verstehen, das dem Menschen
rein rational nicht zugänglich sei. Der Mensch dürfe dieses
Prinzip möglichst wenig durch bewusstes Handeln stören. Den
Weg dazu ebnen die Übungsformen des Qigong und des
Tai-Chi-Chuan. Letzteres ist eine Art inneres Kung-Fu, eine Mischung
aus Meditation, Energiearbeit und Kampf, Ersterer ist reine
Energiearbeit. Obwohl es gegenseitige Beeinflussung zwischen
Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus gibt - der japanische
Zen-Buddhismus soll stark vom Taoismus geprägt sein -, grenzen
sich die Taoisten vom Konfuzianismus ab, der zu stark reglementiert
sei. Als prominente Taoisten in der westlichen Welt gelten die
Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse und Elias Canetti.
Götz Schultheiß
10.01.2009